Die Rekonstruktion der vielschichtigen Ereignisse rund um die 57. Targa Florio am 13. Mai 1973 führte zur Auseinandersetzung mit einem der wahrscheinlich kuriosesten Rennporsche aller Zeiten. Aber auch sonst förderte Carsten Krome Erstaunliches zu Tage und trug möglicherweise dazu bei, seit vier Jahrzehnten ungeklärte Rätsel aufzulösen.

Martini-Streifen auf einer silberglänzenden Karosse in den Konturen des 1973er Porsche Carrera RSR 2.8 sind heute wertvoller denn je. Der Marktpreis hat die 3,5 Millionen Euro erreicht. Mit Forschergeist und einem entsprechenden Netzwerk ausgestattet, recherchierte Carsten Krome immer weiter. So begegnete ihm ein “Maultier”, im Englischen “Mule”. Diese Beschreibung trifft auf ein Kuriosum zu, das in den Porsche-Annalen mit dem nüchternen Kürzel “E42” bezeichnet wird und etwas unerwartet eine Hauptrolle bei der Targa Florio 1973, dem letzten Straßenrennen auf Sizilien mit Weltmeisterschafts-Status, spielte. Er stieg tiefer ein in die Materie, zogen Top-Fachleute aus England und Deutschland hinzu. Das Resultat: eine packende Zeitreise.

25. Juni 1972, Zeltweg in der Steiermark. Auf dem 5,911 Kilometer langen Österreichring findet ein 1.000-Kilometer-Rennen statt, welches für die Marken-Weltmeisterschaft gewertet wird. 20.000 Zuschauer wohnen diesem Ereignis bei warmen und trockenen Witterungsbedingungen bei. 23 Fahrzeuge stellen sich zwei Wochen nach den 24 Stunden von Le Mans den Herausforderungen, die der schnelle Kurs bereithält. Nachdem der maximale Hubraum in der Prototypen-Klasse auf drei Liter reduziert und der Porsche 917 damit verbannt worden ist, sind die Ferrari 312 PB, Alfa Romeo Tipo 33 und Mirage M6 von Gulf Research Racing unter sich – eigentlich. Im Vorfeld der Veranstaltung zieht das offizielle Alfa-Romeo-Einsatzteam Autodelta SpA jedoch alle drei Werkswagen zurück. Ferrari, angeführt von Jacky Ickx und Brian Redman, fällt die Favoritenrolle zu. Dieser werden die Roten mit Bravour gerecht: Für die 1.004,870 Kilometer Renndistanz, 170 Runden entsprechend, benötigt das Duo im Ferrari 312 PB 4:58:46,280 Stunden, was einem Durchschnitt von 201,800 km/h entspricht – eine für die damalige Zeit fabelhafte Leistung, und die Grundlage zum souveränen Sieg mit einer Runde Vorsprung auf die Rennstallkollegen Carlos Pace/Dr. Helmut Marko. Etwas weiter zurück, mit 142 gefahrenen Runden auf Rang zehn, kommt ein kurioser “Prototyp” ins Ziel. Dabei handelt es sich um einen roten Porsche 911 mit 2,7 Liter großem Sechszylinder-Motor und experimentell aussehendem Heckflügel, den Paul-Ernst Strähle aus Schorndorf im Schwabenland für das Rallye-Ass Björn Waldegaard aus Schweden und den Schwaben Günter Steckkönig aus Vaihingen an der Enz an den Start bringt – auf den ersten Blick ein kleines Privatteam. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um eine verdeckt operierende Abordnung des Werks. Dies stellt sich erst im Nachhinein heraus, als der Strähle-Porsche mit der Fahrgestellnummer 911 230 0841 den eigenwilligen Heckspoiler ablegen und sich einen “Entenbürzel” aufsetzen darf – der Vorläufer des Carrera RSR ist erschaffen. Projektleiter ist der Porsche-Ingenieur Norbert Singer, der später auch die legendären 935 und 956 ausgestalten wird. Gleichzeitig entsteht ein zweiter Prototyp, ebenfalls mit “Entenbürzel”, aber mit schmalerer Karosse: der erste Carrera RS 2.7. An dessen rotem Ex-Strähle-Pendant fallen gleich drei Besonderheiten auf: die für den Modelljahrgang 1972 kennzeichnende Ölbefüllungs-Klappe rechts hinten in der Seitenwand, ausstellbare hintere Seitenfenster – und von Hand modellierte Kotflügel-Verbreiterungen. Deren Formenverlauf unterscheidet sich an Vorder- und Hinterachse, hinten drängt sich der Radius weit nach unten. Die enge Verwandschaft mit dem S/T 2.5, auf dem dieses Versuchsfahrzeug tatsächlich auch basiert, ist unübersehbar. Gleichwohl gilt es, den hubraumstärkeren Ford Capri RS 2.6 und BMW 2.800 CS Coupé mit einem gleichwertigen Sportgerät zu begegnen. Gegenüber den Großserien-Tourenwagen hat sich der S/T 2.5 mit 270 als zu schwachbrüstig erwiesen. Ein neues Basismodell – mehr Evolution denn Revolution – soll neue Erfolgsaussichten im Motorsport eröffnen.

Nachdem die sportrechtliche Zulassung bei der FIA, dem Motorsport-Weltverband mit Sitz am Place de la Concorde in Paris, im Herbst 1972 erfolgt ist, erfolgt eine Umwidmung der Fahrgestellnummer. Aus der 911 230 0841 wird die 911 360 0002. Intern erhält der Versuchsträger jedoch zwei davon abweichende Bezeichnungen: “E42” oder auch “Das Maultier”, im englischen “Mule”. Norbert Singer tauft den Wagen so, nachdem er sich als ein verlässlicher Begleiter erwiesen hat. Neben der Chassisnummer muss das “Muli” auch die Farbe wechseln: von Rot zu Silbergrau, verziert mit den Streifen des Martini Racing Teams des italienischen Adeligen – Conte – Rossi di Monteleira. Solchermaßen dekoriert, stellt sich die neue 911 360 0002 oder “E42” auf dem Prüfgelände in Weissach dem Werksfotografen. So entsteht die oft gesehene Perspektive von schräg oben auf die rechte Fahrzeugseite, die ungeachtet des Modelljahrgangs 1973 den Blick auf die Öleinfüll-Klappe freigibt. Eigentlich hat das Maultier damit seine Pflicht und Schuldigkeit getan, es soll aber noch auf Sizilien als Trainingsgerät für die Targa Florio herhalten. Letztmals genießt das am 13. Mai 1973 abgehaltene Straßenrennen den Status eines Marken-Weltmeisterschaftslaufs. Porsche rechnet sich auf der 72 Kilometer langen Marterstrecke, die wie im Radsport in Form eines Einzelzeitfahrens im 20-Sekunden-Takt über zehn Runden genommen wird, beste Chancen aus. Die filigranen Prototypen sind für das holprige Geläuf zu zerbrechlich, die drei Martini-RSR hingegen basieren auf dem bewährten 911. Neben den drei Einsatzfahrzeugen – #911 360 0588 R6 für Herbert Müller/Gijs van Lennep mit der Startnummer 8, #911 360 0020 R2 für Claude Haldi und Leo Kinnunen mit der Startnummer 9 – noch auf einem 1972er Fahrgestell mit Ölklappe basierend – und #911 360 0974 R8 für Günter Steckkönig und Giulio Pucci, das neueste RSR-Chassis überhaupt – wird auch 911 360 0002 E42 – ein weiteres 1972er Chassis mit Ölklappe – mitgenommen und zunächst mit der Startnummer 108T versehen. Da nur zwei Wochen nach der Targa Florio das 1.000-Kilometer-Rennen Nürburgring auf der Nordschleife stattfindet und die Vorbereitungszeit zwischen den Terminen denkbar knapp ist, werden für das Heimspiel der Deutschen in der Eifel zwei weitere Werkswagen vorbereitet, jedoch nicht mit nach Süditalien genommen: #911 360 0686 R7 für Herbert Müller/Gijs van Lennep, eine Weiterentwicklung mit breiteren Kotflügeln, nach unten verlängertem Bugspoiler und zum “Mary-Stuart-Kragen” erweitertem “Bürzel” am Heck sowie das Chassis #911 360 0576 R5 für George Follmer und Willibald Kauhsen, beides Dompteure des 917/10 turbo mit über 1.100 PS. Da der Bestand der Werksfahrzeuge einschließlich der #911 360 0002 E42 und der #911 360 0001 – am 5. Februar 1974 an Stanley Palmer veräußert – zwischenzeitlich auf sieben Fahrzeuge anwächst, können aus diesem Fundus nicht nur die 24 Stunden von Le Mans vier Wochen nach der Targa Florio bestritten werden. Es ist sogar möglich, am 27. Mai 1973 einen Totalschaden beim 1.000-Kilometer-Rennen auf der Nürburgring-Nordschleife zu verkraften (#911 360 0576 R5) und #911 360 0020 R2 bei den 24 Stunden von Le Mans an den französischen Porsche-Importeur Sonauto zu geben.

Die Marschrichtung lautet: “Irgendetwas wird die Torturen in der Madonie und 14 Tage später in der Eifel schon überleben, um wiederum 14 Tage später an der Sarthe auf eine weitere Probe gestellt zu werden!” Am Ende wird es trotzdem knapp, und daran ist der Einheimische Giulio Pucci nicht ganz unbeteiligt. Er wickelt den zu zuletzt fertiggestellten #911 360 0974 R8, eine seriennahe Gruppe-4-Ausführung mit fest eingeglastem hinteren Seitenfenster und fehlender Ölklappe in der rechten hinteren Seitenwand, im Training mit der Beifahrerseite um einen Alleebaum. Die Deformationen der rechten Seite, im Dachbereich und vorn am Windschutzscheiben-Rahmen sind beträchtlich, an eine Weiterfahrt ist nicht zu denken. Der Werkswagen muss verladen und abgeschrieben werden, er gilt heute offiziell als “verschrottet”. Im Porsche-Jargon bedeutet das übrigens nicht, dass der Wagen zwingend in den Siemens-Martin-Ofen gekommen ist. Er wird lediglich aus dem Inventar ausgebucht. So endet die Einsatzhistorie der #911 360 0974 R8 auf einem offenen Transportanhänger mit tatsächlich unbekanntem Ziel. Nun zeigt sich Giulio Pucci von der Begegnung mit dem Baum äußerlich unbeeindruckt. Als Sizilianer brennt er darauf, die Fahrt vor heimischer Kulisse fortzusetzen. Er erhält die Erlaubnis, sich in #911 360 0020 R2 – für Claude Haldi und Leo Kinnunen vorgesehen – zu setzen. Haldi, ein eidgenössischer Industrieller, hat noch seinen halbprivaten Porsche 908/3 mit der Chassis-Endnummer 013 dabei. Er ist zumindest bis zum technischen Ausfall der Flunder im Beige des Sponsors “Toblerone” vorerst versorgt. Bitterböses Detail am Rande: Dieser 908/3 wird am 24. Mai 1981 beim 27. ADAC-1000-km-Rennen auf der Nürburgring-Nordschleife in einem Feuerball aufgehen und – ausgerechnet – das Schicksal von Claude Haldis Porsche-Werksfahrerkollegen Herbert Müller besiegeln. Wie Haldi ein Schweizer, ist “Stumpen-Herbie” ohne Überlebenschance. Zum Zeitpunkt des Unglücks befindet sich der Porsche 908/3 schon lange nicht mehr in Haldis Besitz, sondern im Bestand des Eberbacher Zahnarztes Dr. Siegfried Brunn.

Doch zurück zur 57. Targa Florio, respektive zu den Trainingstagen vor dem 13. Mai 1973, dem eigentlichen Renntag! Giulio Pucci demoliert auch die ihm anvertraute Startnummer 9, allerdings nicht so schwer wie die zurückgezogene Startnummer 107. Die Mechaniker Gerhard Küchle, Werner Hillburger und Werner Enz treten in Aktion, nachdem sich Pucci überschlagen hat. Sie bringen #911 360 0020 R2 in einer provisorisch eingerichteten Werkstatt zurück in Form. Besonders die Dachpartie hat etwas abbekommen. Sie muss ausgebeult und mittels Karosseriespachtel wieder in eine halbwegs plausible Kontur gebracht werden. Offenbar hat auch die Fronthaube einschließlich Schnellbetankungs-Anlage (zwei Klappen zur gleichzeitigen Befüllung und Entlüftung) Schaden genommen und muss ersetzt werden. Da die E42 über eine bereits entsprechend präparierte Fronthaube verfügt, kann diese für die #911 360 0020 R2 übernommen werden. Nun fehlt der E42, dem veritablen “Maultier”, wiederum der vordere Deckel. Doch es gibt ja noch Giulio Puccis erstes Schlachtopfer, die #911 360 0974 R8. Bevor der neu aufgebaute RSR an einem Alleebaum endet, hat er in der seriennahen Gruppe 4 (Spezial-Grand-Tourisme-Fahrzeuge, FIA-Homologation 3053) starten sollen. Die beiden anderen Werkswagen – mit der Schnellbetankung über die Fronthaube – sind in der Prototypen-Klasse gemeldet. Daher rührt auch die ungewöhnliche Startnummern-Folge #8 (Müller/van Lennep), #9 (Kinnunen/Haldi) und #107 (Pucci/Steckkönig, GT-Klasse). Insgesamt sind vier RSR auf Sizilien dabei – drei im Rennen, einer zerstört auf dem Anhänger.

Das ramponierte Dach der #911 360 0020 R2 (Kinnunen/Haldi) klebt die schnelle Eingreiftruppe vor Ort mit Zeitungspapier ab und lackiert es über Nacht in Rot, um vom dick aufgetragenen Karosseriespachtel abzulenken. Eine weitere Besonderheit: angenietete hintere Kotflügel-Verbreiterungen. Währenddessen drängt Pucci abermals auf Weiterfahrt, was der listige Herbert Müller, rothaarig, von kleinem Wuchs – ein Hermann Buhl des Motorsports –, mit einem Trick zu vereiteln sucht. Heimlich lässt er den Schlüssel zu seinem Einsatzfahrzeug, der #911 360 0588 R6, in den Tiefen seiner Hosentasche verschwinden. Damit ist die Startnummer 8, der spätere Siegerwagen, vorübergehend außer Betrieb gesetzt. Pucci, der Bruchpilot, muss trotz der vorbeugenden Maßnahme seines Rennstall-Kollegen auf einen Renneinsatz nicht verzichten, ebensowenig sein Teamgefährte Günter Steckkönig, der Porsche-Versuchsingenieur aus Vaihingen an der Enz. Da gibt es nämlich noch das Testauto mit der Startnummer 108 T, und das hat Günter Steckkönig – der Kreis schließt sich – schon einmal im Rennen bewegt: am 25. Juni 1972, bei den 1.000 Kilometern von Zeltweg auf dem Österreichring. Sie haben das richtig verstanden: das zur #911 360 0002 E42 umgewidmete Chassis 911 230 0841, der ehemals rote Strähle-Porsche mit dem Beinamen “Maultier”. Wieder einmal erweist sich das “Muli” als verlässlicher Helfer in der Not. Aus der 108 T lässt sich mit geringem Aufwand die Startnummer 107 zimmern, allerdings klebt die neue Endziffer nicht ganz akkurat auf der Karosserie, sondern leicht nach unten versetzt – bis heute ein Kriterium bei der Identifikation. Die wichtigeren Merkmale bleiben die Olklappe in der hinteren Seitenwand, die hinteren Ausstellfenster und die Kontur der von Hand gedengelten, in dieser Form einmaligen hinteren Kotflügel. Nachdem die “E42” vom Trainingsauto mit der Startnummer #108 T zum Renneinsatzwagen #107 befördert worden ist und von Puccis erstem Unfall-RSR die Fronthaube ohne Schnellbetankung und mit abweichender Beklebung notfallmäßig erhalten hat – Ersatzteile gibt es kaum – wird Puccis zweiter Ersatzwagen nachträglich in die Prototypen-Kategorie, die Gruppe 5, umklassifiziert.

Dennoch starten er und Günter Steckkönig mit der nach einem Motorwechsel PS-stärkeren “E42” ohne die Schnellbetankungs-Einrichtung. Pucci und Günter Steckkönig, vom Unfallpech diesmal verschont, erreichen mit der “E42” den sechsten Rang. Freilich liegt der Schluss nahe, dass Günter Steckkönig den Löwenanteil der 720 Kilometer umfassenden Renndistanz bewältigt, um weiteres Unheil zu vermeiden. Später wird er sagen, er habe bei der “Targa” vier Stunden am Stück im RSR sitzen dürfen, ohne zu trinken, das sei damals halt so gewesen. Der äußerlich knochenharte Schnauzbart-Träger, Jahrgang 1936, ist nicht nur zu seiner aktiven Rennfahrer-Zeit ein begeisterter Radsportler. Am Rande des von Rainer Braun 2003 organisierten Klassentreffen “Hallo, wie geht’s?” äußert er im Pressegespräch: “Wenn ich wusste, dass Le Mans vor der Tür stand, bin ich Wochen zuvor schon mit dem Rad ins Werk und abends wieder nach Hause gefahren, ich hatte dann schon meine Trainingseinheit absolviert und war früher bei meiner Familie daheim.” Günter Steckkönig, der 1992 angesichts der schwachen Konjunktur bei Porsche freiwillig in den Vorruhestand geht, um die Stelle eines jungen Familienvaters zu retten, war und ist in jeder Hinsicht “einer vom alten Schlag”. Nach dem sechsten Platz in den Straßen Siziliens legt er den Heimweg im Rennwagen, der auf das Leonberger Kennzeichen LEO-ZA 60 zugelassen ist, noch auf eigener Achse zurück. Die Begründung ist atemberaubend: nicht genügend Platz im Renntransporter. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nach der 57. Targa Florio, letztmals ein Marken-Weltmeisterschaftslauf, setzt sich das Test- und Einsatzprogramm im 14-tägigen Rythmus fort. #911 360 0020 R2, auf die Schnelle ins Gelb und Grün des französischen Ponsche-Impoteurs Sonauto umlackiert und mit neuem, weiter nach unten gezogenem Frontspoiler sowie neuen hinteren Seitenwänden in RSR-Breite ohne die Ölklappe versehen, muss für die 24 Stunden von Le Mans am 9. und 10. Juni 1973 präpariert werden. Dort steuern der Lokalmatador Guy Chausseuil und der US-Amerikaner Peter Gregg die Startnummer 9 von der Targa Florio. In Le Mans sind sie freilich mit der Startnummer 48 unterwegs. Sie erreichen den 14. Gesamtrang. Die Startnummer 46 – #911 360 0686 R7 mit Herbert Müller/Gijs van Lennep – wird im Feld der Prototypen an vierter Stelle klassiert – ein großer Erfolg. Nicht im Ziel: die Startnummer 47, gefahren von Reinhold Joest und Claude Haldi. Nachdem #911 360 0576 R5 auf der Nürburgring-Nordschleife verschrottet worden ist, muss der Siegerwagen der Targa Florio 1973 auf die 24 Stunden von Le Mans vorbereitet werden. #911 360 0588 R6 erhält ebenfalls den Karosserie-Umbau der #R7, die vordere und hintere Schürze werden jedoch zur besseren Unterscheidung statt in leuchtenden Rot in Gelb ausgeführt. Aufgrund eines Defektes am Einspritzsystem fällt die Startnummer 47 aus – und ist dennoch ein Hotscorer auf dem Sammler- und Investorenmarkt. 1992 erwirbt die US-amerikanische Toad Hall Collection um Jim Oppenheimer und den Kunsthändler Peter Kitchak das Auto, 2010 geben sie es weiter. Inzwischen wird die historische Substanz dem Vernehmen nach im Schorndorfer Betrieb von Paul-Ernst Strähle junior in den Ursprungszustand bei der Targa Florio 1973 zurückversetzt. #911 360 0020 R2 ziert heute die Porsche-Sammlung im Museum am Porscheplatz 1 in Stuttgart-Zuffenhausen. Zwar ist der Karosserie-Baustand der 24 Stunden von Le Mans 1973 mit hinteren Seitenwänden in RSR-Breite geblieben, auch die Ölklappe fehlt hinten rechts, aber zumindest das Farbschema entspricht dem der Targa Florio 1973, als Claude Haldi und der Finne Leo Kinnunen den dritten Platz hinter Sandro Munari/Jean Claude Andruet im Lancia Stratos belegen. Die provisorische Anmutung mit angenieteten hinteren Kotflügeln und nachträglicher “Entenbürzel”-Erweiterung ist freilich verloren gegangen – zum Glück, wie manche sagen.

Während der Verbleib der meisten Martini-RSR damit geklärt ist, gibt das legendäre “Maultier”, die “E42”, zu Spekulationen Anlass. Wo ist es geblieben? Beim US-Amerikaner Jim Calzia aus Sunnyvale, Kalifornien, jedenfalls nicht! Obwohl der Porsche-Enthusiast bei Meetings wie den Sonoma Historics regelmäßig ein Exemplar mit der Startnummer 107 und vollständig abnehmbaren hinteren Seitenwänden ausführt, räumt er freimütig ein, eine Replika zu besitzen. Die Spur, die das “Muli” gelegt hat, führt nach Hanau. 1973 soll der damalige Reifenpartner Dunlop die “E42” erworben haben, um damit Anbau- und Fahrversuche durchzuführen. Ist die Geschichte erzählt oder könnte es auch anders gewesen sein? Grundsätzlich ja, zumal sich die Gelehrten seit vier Jahrzehnten uneins sind über die Frage, wie es nun wirklich war in den Tagen im Mai und Juni 1973. Aber genau das macht den Mythos auch aus – diese absolute Perfektion des Unperfekten. Das gilt für die automobilen Protagonisten, die noch lange, lange nicht auf heutigem Entwicklungsstand angekommen waren. Das gilt allerdings auch für die verfügbaren Medien. Während jeder Atemzug und wohl auch jedes Wort eines Porsche-Werksfahrers heute online abrufbar sind, so hat dies in “grauer Vorzeit” natürlich anders ausgesehen. Daher können wir uns vorstellen, dass auch andere Rekonstruktionen der Targa Florio 1973, des 1.000-Kilometer-Rennens Nürburgring und der 24 Stunden von Le Mans existieren. Allerdings müssen wir feststellen, seit mehr als drei Jahren mit deutschen und englischen Top-Fachleuten an dieser Geschichte gearbeitet zu haben. Wir schließen das Dossier ab in dem Wissen, jedes verfügbare Detail verarbeitet zu haben. Wer dennoch einen gänzlich anderen Standpunkt vertritt, möge ihn uns mitteilen.

Verantwortlich für den Inhalt: Carsten Krome

Mitwirkende: Historisches Archiv der Porsche AG, Jens Torner sowie Mike Moore, Thomas Böttcher, Neil Bainbridge

Das Fahrgestellnummern-Kompendium

RSR 2.8 der ersten Serie – Daten, Fakten, Einsätze.

Bevor Porsche im Modelljahr 1973 49 RSR 2.8 für den Kundensport auflegte und damit die Schlagzahl gegenüber dem 911 S/T auch quantitativ erhöhte, mussten die Werkswagen des Martini Racing Teams das Potenzial des neuen Herausforderers aufzeigen. Auf der Grundlage dreier S/T-Karossen, diese besaßen noch die ausschließlich im Modelljahr 1972 verwendete Ölbefüllungs-Klappe in der rechten hinteren Seitenwand, entstanden die ersten drei “Rennsport-Rennausführungen”, sprich: RSR oder werksintern auch M491. Interessant ist, das zwei dieser Erlkönige an der Targa Florio 1973 teilnahmen, wenn auch nicht ganz freiwillig. Einer der beiden RSR der frühen Tage erhielt zu den 24 Stunden von Le Mans 1973 neue Seitenwände, die die ursprüngliche Ölbefüllungs-Klappe verschwinden ließen.

911 360 0001

Der erste Prototyp des RSR entsteht 1972 auf der Grundlage eines Rallye-S/T, der dem Polen Sobieslaw Zasada zur Verfügung steht. Am 5. Februar 1974 erfolgt der Verkauf an den Briten Stanley Palmer – nach heutigem Kenntnisstand als Rolling Chassis mit drei Motoren. Der naheliegende Hintergrund liegt in der gängigen Praxis der “Verschrottung”. Test- und Entwicklungsfahrzeuge werden auf diese Weise aus dem Bestand ausgebucht, aber nicht zwingend in die Schrottpresse gegeben. In roter Originalfarbe ist dem Ur-RSR noch eine lange Rallye-Karriere auf der britischen Insel beschieden.

911 360 0002 E42

Vielleicht der kurioseste Rennporsche aller Zeiten, auf einem 911 S/T mit der Fahrgestellnummer 911 230 0841 basierend. Nach dem 1.000-Kilometer-Rennen Zeltweg auf dem Österreichring am 25. Juni 1972 zur 911 360 0002 “E42” umgewidmet, zur Saison 1973 in Silbergrau umlackiert und als Werks-Präsentationsauto für Fotoaufnahmen in Weissach verwendet. Bei der Targa Florio 1973 zunächst als Trainingsfahrzeug mit der Startnummer 108T im Einsatz, nach zwei Unfällen im Team (jeweils durch Giulio Pucci verursacht) als neuer Einsatzwagen mit Startnummer 107 für die Prototypenklasse (Gruppe 5) gemeldet, sechster Platz für Giulio Pucci/Günter Steckkönig. Anschließend keine weiteren Einsätze bekannt, vermutlich Verkauf an Dunlop, Hanau, im Zuge von Anbauversuchen.

911 360 0019 R1

Eins von zwei Rallyefahrzeugen in Marlboro-Farben, Einsatz bei der Tour de Corse 1972, (Startnummer 6, Fahrer: Björn Waldegaard, Kfz-Kennzeichen: LEO-ZA 68). 2014 Vermarktung über John Starkey als Restaurationsprojekt.

911 360 0020 R2

Noch auf einem 1972er Fahrgestell mit Ölklappe basierend, nimmt der dritte gebaute RSR zunächst in Marlboro-Sponsorfarben an der Tour de Corse 1972 teil (Startnummer 2, Fahrer: Gérard Larrousse, Kfz-Kennzeichen: LEO-ZA 69). R2 ist ganzjährig in intensive Testfahrten eingebunden, diese finden wahlweise in Le Castellet, Südfrankreich, sowie in Weissach statt. Targa Florio 1973 mit Leo Kinnunen und Claude Haldi (Startnummer 9). Nach Giulio Puccis erstem Unfall und dem daraus resultierenden Totalschaden der 911 360 0974 R8 müssen die Einsatzfahrer ihr Cockpit vorübergehend für Pucci räumen. Dieser überschlägt sich und beschert den Werks-Mechanikern Gerhard Küchle, Werner Hillburger und Werner Enz eine Notreparatur, insbesondere im Dachbereich. Die hinteren Kotflügelverbreiterungen werden mit Nieten fixiert, die provisorischen Erweiterungen des “Entenbürzel”-Heckspoilers, später als “Mary-Stuart-Kragen” bekannt geworden, gar mit Klebeband. Platz drei bei der Targa Florio durch Kinnunen/Haldi, anschließend Austausch der hinteren Seitenwände und Lackierung in Gelb und Grün im Hinblick auf die 24 Stunden von Le Mans (Startnummer 48, Fahrer: Guy Chausseuil/Peter Gregg). Anschließend Anbauversuche im Zuge der Entwicklung des RSR 2.1 turbo (ab 1974) und Rücklackierung in Silber sowie Verbleib im Fundus des Porsche Museums. Inzwischen zumindest in das Farbschema der Targa Florio 1973 zurückversetzt, nicht jedoch in den damaligen Karosseriestand.

911 360 0576 R5

Genau wie 911 360 0974 R8 ein kurzlebiger Werks-Einsatzwagen mit einer Teilnahme am 1.000-Kilometer-Rennen Nürburgring am 27. Mai 1973 (Fahrer: George Follmer/Willibald Kauhsen). Die Frontpartie ist leuchtend gelb lackiert, um der Boxenmannschaft und den Zuschauern vor Ort die Unterscheidung von #911 360 0686 R7 “Mary Stuart” (Fahrer: Herbert Müller/Gijs van Lennep) zu erleichtern. Nach dem Totalschaden auf der Nürburgring-Nordschleife wird dieses Farbschema im Hinblick auf die 24 Stunden von Le Mans auf die 911 360 0588 R6 übertragen. Heute befindet sich die laut offizieller Lesart wieder instandgesetzte 911 360 0576 R5 in französischem Privatbesitz.

911 360 0588 R6

Der Siegerwagen der Targa Florio 1973, gefahren von Herbert Müller und Gijs van Lennep mit der Startnummer 8, setzt sich klar gegen den Lancia Stratos der Rallyestars Sandro Munari/Jean Claude Andruet durch. Nach dem sensationellen Triumph eines Produktionswagens beim letzten Marken-Weltmeisterschaftslauf auf Sizilien muss der Umbau für die 24 Stunden von Le Mans erfolgen, nachdem #911 360 0576 R5 (Fahrer: George Follmer/Willibald Kauhsen) auf der Nürburgring-Nordschleife verschrottet worden ist. Mit leuchtend gelber Bug- und gleichfarbiger Heckschürze ausgestattet, starten Reinhold Joest und Claude Haldi mit Startnummer 47 an der Sarthe. Sie kommen allerdings nicht ins Ziel. 1992 erwirbt die US-amerikanische Toad Hall Collection um Jim Oppenheimer und Peter Kitchak das Auto, 2010 geben sie es an einen Brasilianer weiter. Dieser ist auch im Besitz des Porsche 917.023, des legendären “Kartoffelkäfers”. Inzwischen versetzt Paul-Ernst Strähle junior #911 360 0588 R6 unter Mitwirkung der “alten Recken” von damals in den Ursprungszustand zurück.

911 360 0686 R7 “Mary Stuart”

Der erste von lediglich zwei RSR in der berühmten “Mary Stuart”-Breitbau-Version mit Aluminium-Türen, kurzen Achsschwingen und Schraubenfedern aus Titan für die klassischen Rundkurse der Marken-Weltmeisterschaft 1973. Motor mit Flachschieber-Einspritzanlage. Erster Einsatz (Fahrer: Herbert Müller/Gijs van Lennep) am 27. Mai 1973 beim 1.000-Kilometer-Rennen auf der Nürburgring-Nordschleife, fünfter Platz. 24 Stunden von Le Mans 1973 (Startnummer 46, Fahrer: Herbert Müller/Gijs van Lennep), vierter Platz. Verkauf an Peter Gregg/Brumos Racing, Jacksonville, Florida im Juli 1973, im Februar 1974 Weiterverkauf an Hector Rébaque, Mexico, ab November 1977 im Besitz der Baliva Foundation. Schwesterfahrzeug: 911 360 0588 R6.

911 360 0974 R8

Dieses zuletzt gebaute Fahrzeug ist zugleich das mit der vermutlich kürzesten Lebensdauer. Giulio Pucci schleudert bei Trainingsfahrten im Vorfeld der Targa Florio 1973 mit der Gruppe-4-Version ohne Ölklappe und Fronthauben-Betankung seitlich gegen einen Alleebaum, was zu einem Totalschaden führt. Verschiedene Komponenten – Motor, Fronthaube, Bugschürze – müssen nach dem zweiten Pucci-Unfall weiter verwendet werden, um 911 360 0020 R2 wieder instandzusetzen. Fahrzeug im Anschluss an die Targa Florio 1973 offiziell “verschrottet”.

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