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Samstag, 22. August 2009, 10 Uhr morgens: Die Sonne strahlt hoch über dem Nürburgring, im Fahrerlager setzt das Rennvolk zur Wetterlage passende Mienen auf. Es ist Renntag bei Classic Endurance Racing. 2004 installierte Promoter Patrick Peter das einstündige Schaulaufen der Legenden als Rahmenwettbewerb der Le Mans Endurance Series (kurz LMES). Nach dem ersten halben Jahrzehnt fällt die Bilanz positiv aus. Auf dem Eifelkurs haben sich 50 Wagen in einer zentralen Zeltstadt eingefunden, die der Veranstalter nach dem Vorbild der historischen Formel 1 errichtet. Die Zelte sind zugleich die Boxen der Teilnehmer. Rechtwinklig angeordnet, ergeben sie im Mittelpunkt eine Plaza. Wer dort den Blick im 360-Grad-Schwenk schweifen lässt, traut seinen Augen kaum.

Da stehen fünf Porsche 935 turbo auf einem Fleck, vier BMW M1, fünf Carrera RSR 3,0, ein 936 turbo, ein 908 Coupé, ein 910, ein BMW 320i Gruppe 5, ein Sauber-BMW und vieles mehr. Die Szenerie gleicht einem automobilen Bonbonladen und niemand würde es wagen, den Marktwert dieses Traumfeldes hochzurechnen. Nein, über Geld will hier niemand reden, auch nicht der ungenannt bleiben wollende Besitzer eines der fünf Porsche 935. Zwei Wochen zuvor erteilte er dem AvD-Oldtimer-Grand-Prix – ebenfalls auf dem Nürburgring abgehalten, wir berichteten in der November-Ausgabe 2009 – eine Absage. Seine Begründung: Ihm mache es keinen Spaß, mit einem Originalfahrzeug gegen Plagiate und deren eingebaute Wettbewerbsvorteile anzutreten. Namen will er nicht nennen. Muss er auch nicht. Denn einige Protagonisten des AvD-Oldtimer-Grand-Prix sind bei Classic Endurance Racing gar nicht erst vertreten.

Dass sich die technischen Kommissare auf keine Diskussionen einlassen, hat sich herumgesprochen. Der technische Stand, der in den Wagenpapieren festgehalten ist, muss tatsächlich auch vorgeführt werden. Jünger als Jahrgang 1979 darf keine Konstruktion sein. Man achtet auf Details, lehnt Teilnehmer im Zweifel ab und hält so ein atemberaubend hohes Niveau. Der Star schlechthin ist der Schweizer Jean-Marc Luco. Im Porsche 936 mit Chassis-Endnummer 004 dominiert er die Saison 2009. Auch auf dem Nürburgring ist gegen die Langheck-Flunder kein Stich zu machen. Es ist schon kurios: Vor ziemlich genau 25 Jahren startete ein- und derselbe 936-004 zum letzten Mal auf dem Nürburgring. An seinem Volant drehte damals, beim 300-Kilometer-Rennen 1984, der Eberbacher Zahnarzt Dr. Siegfried Brunn. Noch kurioser: Der Dentist mischt ein Vierteljahrhundert später noch immer als aktiver Pilot mit. Unterstützt von seinem Sohn Philipp, steuert Dr. Brunn einen Sauber C5. Das Duo setzte 2008 einen Carrera mit Erfolg ein. Es sei an der Zeit für eine Veränderung gewesen, verweist der Sportwagen-Experte.

Im Laufe der Jahre machte er sich einen Namen als Restaurateur verschiedener Porsche 908/3. 2004, der ersten Saison von Classic Endurance Racing, traten Siggi und Philipp Brunn mit dem Porsche-Chassis 908 03 003 in Erscheinung. Der Vernunft gehorchend, ging dieses Original von Porsche Salzburg inzwischen in eine Privatsammlung über. Rennwagen von musealem Rang in Einstunden-Distanzen zu (über-)fordern, kann wirtschaftliche Totalausfälle nach sich ziehen. Die Fahrer wissen das, sehen dem Risiko aber gelassen entgegen. Ein solch unerschrockener Charakter ist der Wahl-Amerikaner “Mark Bullit”. Seinen Namen müssen wir in Anführungszeichen nennen, weil es sich um ein Pseudonym handelt. “Bullit” sitzt im 1980 von Reinhold Joest aufgebauten 935 turbo, den Rolf Stommelen und später Manfred Winkelhock in der Deutschen Rennsportmeisterschaft jenes Jahres steuerten. Beide Profis verunglückten bei Übersee-Einsätzen tödlich, was dem Nimbus ihres einstigen Arbeitsgeräts die Krone aufsetzt. Über Umwege kehrte das 1982 in Le Mans schwer verunfallte Gruppe-5-Gerät zurück nach Deutschland, wo es seitdem wieder stationiert ist. Trotz 800 PS aus einem 3,2 Liter großen Doppelader-Motor geht “Bullit” sorgenvoll ins Rennen. Er weiß, dass das Benzin bei allzu optimistisch eingestelltem Ladedruck knapp werden kann. Die ganze Leistung darf er deshalb nicht abrufen. Stattdessen, vermuten Insider, dürfte ihm ein ganzes Rudel frecher, leichtgewichtiger Zweiliter-Sportwagen von Lola oder Chevron auf der Nase herumtanzen.

Doch der kräftige “Bullit” boxt sich durch, als es am Nachmittag um kurz nach vier losgeht. Zwar heulen um ihn herum die Zweiliter-Vierzylinder-Motoren. Doch der beste 935-Vertreter in der 50-Wagen-Konkurrenz nimmt eine Platzierung unter den ersten Fünf ins Visier. Als nach 61 Minuten und 4,44 Sekunden die Zielflagge fällt, hat es “Bullit” geschafft: fünfter Rang hinter drei Zweiliter-Lola und dem alles überragenden Jean-Marc Luco im 936. Jener Spyder, mit dem Jacky Ickx und Reinhold Joest bei den 24 Stunden von Le Mans 1980 Zweite wurden, erweist sich auf dem Nürburgring als unbezwingbar. Immerhin dreht Philipp Brunn im Sauber C5 die schnellste Rennrunde. Doch seinem Speed zollt er hohen Tribut, als er im 15. von insgesamt 27 Umläufen ausfällt. Stellvertretend bringt Siggi Brunn das Dilemma auf den Punkt: “Vieles an unserem Auto ist noch original und entsprechend gestresst. Doch dieser offene Prototyp macht unheimlich viel Spaß. Das kompensiert sein kapriziöses Wesen.”

Zurück ins Fahrerlager, wo ein enttäuschter Klaus Ludwig in Zivilkleidung alte Freunde, Weggefährten und Gegner antrifft! Eigentlich ist der Altstar verpflichtet worden, einen deutschen Porsche zu pilotieren. Doch die technischen Kommissare verweigern dem Siegerwagen der Youngtimer-Trophy zwei Wochen zuvor auf der Nürburgring-Nordschleife die Startgenehmigung. Ihre harte Entscheidung begründen sie mit Diskrepanzen zwischen den vorgelegten Wagenpapieren und dem vorgeführten Fahrzeug. Ludwig, dreifacher Le-Mans-Sieger, muss tatenlos zuschauen. Schade – der Roisdorfer hätte eine zusätzliche Aufwertung im Schaulaufen der Hochkaräter sein können! Vielleicht versucht er es im kommenden Jahr wieder – mit reglementkonformem Material, das ihm diesmal nicht zur Verfügung stand. Dabei wäre im Bonbonladen – pardon, bei Classic Endurance Racing – die Auswahl groß gewesen…

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